Susanna Kulli

Gespräch mit Christina von Rotenhan und Jochen Hesse am 18. Januar 2018 in der Kunsthalle Zürich


Christina von Rotenhan: Liebe Susanna, ich freue mich sehr, mit dir und Jochen auf 33 Jahre Galerietätigkeit zurückzublicken. [Betrachtet Buch „33 Jahre” ] Letztes Jahr hast du deinen offizielle Galerietätigkeit mit dieser schönen Publikation, mit der du dein Galeriearchiv aufgearbeitet hast, abgeschlossen. Wie begann alles? Wie kamst du nach St.Gallen und wieso hattest du 1983 diesen Impuls, eine Galerie zu eröffnen?

Susanna Kulli: 1978 kam ich von Zürich nach St.Gallen, um in der Erker-Galerie zu arbeiten. Hier trafen sich die grossen Künstler der Nachkriegszeit mit Dichtern, Philosophen, Wissenschaftlern und Schriftstellern. Da waren zum Beispiel Friedrich Dürrenmatt, Max Frisch, Émile Michel Cioran, Andrea Zanzotto, Margarete und Alexander Mitscherlich – von den Künstlern die École de Paris, Serge Poliakoff, Antoni Tàpies, Eduardo Chillida, auch Eugène Ionesco, Günther Uecker, Roman Opalka. Die Erker-Treffen alle 3, 4 Jahre waren legendär. Es gibt in meiner Publikation einen Text von Max Wechsler, der diese Zeit der Erker-Galerie – und was Franz Larese und Jürg Janett da leisteten – sehr schön beschreibt. Ich bewegte mich damals in einer Aufbruchstimmung, die in der Schweiz auch in der Kunst herrschte. Ein zweiter wichtiger Bezugspunkt war für mich die erste Retrospektive von Blinky Palermo 1980 im Haus der Kunst in München – ein unglaubliches Erlebnis. Da habe ich gedacht, ich möchte mich in meinem Leben für die Künstler und Künstlerinnen meiner Generation einsetzen, und vielleicht ist da auch ein zukünftiger Blinky Palermo dabei.

CvR: Deine erste Ausstellung war mit Giuseppe Spagnulo. War das zuerst als einzelne Ausstellung geplant, oder ging es von Anfang an darum, eine Galerie zu betreiben?

SK: Die Begegnung mit dem Werk von Blinky Palermo weckte schon den Wunsch, eine eigene Galerie zu eröffnen und ab dem Moment ging ich noch aufmerksamer an Ausstellungen. Spagnulo traf ich bei meinem Kollegen Walter Storms in München. Die erste Ausstellung mit ihm setzte ich sehr bewusst. Giuseppe Spagnulos bildhauerisches Werk genoss in Italien und in Deutschland bereits viel Ansehen, seine Arbeiten waren in der Schweiz aber noch nie zu sehen gewesen. Im ersten Jahr wollte ich eine grösstmögliche Offenheit in meinem Programm zeigen. Aus diesem Grund folgte die zweite Ausstellung mit neuen Arbeiten von John M Armleder. Als John von meiner Begeisterung für Blinky Palermo hörte, meinte er: «let’s do the show!» Dieser Rückbezug auf das Werk von Blinky Palermo durchzieht eigentlich meine ganze Galerietätigkeit.

CvR: Es gibt viele Kunstschaffende, denen du eine erste Ausstellung in der Schweiz, oder überhaupt eine erste Ausstellung ermöglicht hast, zum Beispiel Christoph Büchel. Wie kam es zu dieser Zusammenarbeit?

SK: 2002 zeigten wir einen Ausstellungs-Parcours von Christoph Büchel durch 10 verschiedene Räume über zwei Ebenen, die in die Galerie eingebaut wurden, und im selben Jahr an der Art Basel das Video «La Suisse existe». Im Jahr darauf zeigten wir da Büchels Container «Close Encounters». Christoph Büchel lernte ich zwei Jahre zuvor kennen, als ich für den Aufbau einer Arbeit von Thomas Hirschhorn an meinem Stand an der Art Basel zwei zusätzliche Assistenten suchte. Christoph Büchel und ich bauten die Arbeit von Thomas Hirschhorn zusammen auf und hatten viel Spass. Seine Energie kam nahe an die von Thomas Hirschhorn heran, und sein Verständnis für das Werk seines Künstlerkollegen überzeugte mich sehr. Zudem stellte sich heraus, dass wir beide ein Faible für das Flippern hatten. Die Arbeit von Thomas Hirschhorn hiess zufällig auch so: «Flipper».

CvR: Offenheit, Beweglichkeit, auf Möglichkeiten reagieren, scheinen Deine ganze Galeriearbeit zu prägen. Du hast in St.Gallen fast alle sieben Jahre die Ausstellungsräume gewechselt, bevor du die Galerie 2004 nach Zürich verlegt hast. Kannst du uns noch ein bisschen detaillierter erzählen, wie du die 1980er- und die frühen 1990er- Jahre wahrgenommen hast? Was passierte da in der Kunstszene in St.Gallen, und wie blickte man auf Zürich?

SK: Der Austausch fand nicht nur zwischen St.Gallen und Zürich, sondern auch zwischen Zürich und St.Gallen statt. In Zürich begann der Aufbruch der 1980er-Jahre für mich mit Bice Curigers Ausstellung «Saus und Braus» im Strauhof 1980. Damals gab es in Zürich das InK, die «Hallen für internationale neue Kunst», die Urs Raussmüller initiiert und geleitet hat. Das InK bestand von 1978 bis 1981 in Zürich, bevor der neue Standort Schaffhausen wurde. Dann die Stiftung Binz und die Galerie Verna. Vieles nahm in diesen Jahren an Fahrt auf, geriet in Umbruch in der Schweiz, in Luzern, Basel, Bern und Genf ebenso wie in St.Gallen. In St. Gallen waren in den 1980er-Jahren die Möglichkeiten an Ausstellungen mit Gegenwartskunst mannigfaltig. 1985 eröffnete die Kunsthalle St.Gallen mit eigenen Räumen. Ab 1983 zeigte der Kunstverein St.Gallen Ausstellungen in St.Katharinen. Die Wiedereröffnung des Kunstmuseums St.Gallen fand 1987 statt, nachdem es 17 Jahre geschlossen war. Es gab die Galerien Wilma Lock und Buchmann, und Künstler wie Roman Signer, die in der Schweiz und zunehmend auch international bekannt waren. Thomas Howeg, Buchhändler und Verleger aus Zürich, initiierte an der Hochschule St.Gallen ein Fluxus-Performance-Programm erster Güte, und der Filmemacher Peter Liechti war ebenso Teil des Geschehens wie Hans Ulrich Obrist, der als junger Gymnasiast meine Galerie besuchte, nach den Adressen der Künstler fragte und Anfang der 1980er-Jahre in seiner Küche seine erste Ausstellung veranstaltete. In der Kunst der klassischen Moderne stand die Erker-Galerie an Qualität und internationaler Ausstrahlung weit über uns allen. Es konnte einem durchaus geschehen, dem einen oder anderen international anerkannten Künstler, Philosophen oder Schriftsteller wie selbstverständlich in der Stadt zu begegnen. Mit ihrem Ausstellungsprogramm und ihrer Vermittlungsarbeit zwischen Kunst und Schrift, Kunst und Wort, bereicherte die Erker-Galerie die Stadt und strahlte weit über ihre Grenzen hinaus.

CvR: Es gibt auch eine schöne Verbindung zwischen deinem Galerieprogramm in St.Gallen und Zürich: die erste Ausstellung in der Kunsthalle Zürich war von einem deiner Künstler, Gerhard Merz.

SK: Ja, und mit dieser Ausstellung von Gerhard Merz, sie hiess «Construire», bezog die Kunsthalle Zürich 1989 ihre ersten festen Räume im damaligen Schöllerareal. Urs Stahel war der Gastkurator, den Ausstellungskatalog gestaltete Peter Zimmermann – wir sind seither befreundet, Peter ist auch der Mitherausgeber und Gestalter meiner Publikation.

CvR: Gerhard Merz war der dritte und der bekannteste Künstler, den du 1983 in deiner Galerie an der Rosenbergstrasse in St.Gallen gezeigt hast. Ein Jahr vor seiner Ausstellung in Zürich bist du in St.Gallen in den nächsten, richtig grossen Galerieraum umgezogen, der von Gerwald Rockenschaub auch das «New Yorker Loft von St.Gallen» genannt wurde.

SK: [Lacht] Und Olivier Mosset schrieb dazu: «St.Gallen has a cathedral and its library and Susanna Kullis gallery». 1988 bezog ich diese zweiten Galerieräume mit unglaublichen 350 Quadratmetern. Ich mietete sie ohne Zusicherung auf unbefristete Zeit, da der Umbau des Gebäudes zum heutigen Hauptsitz der Stadtpolizei erst durch eine städtische Abstimmung angenommen werden musste. Adrian Schiess konnte dort zum ersten Mal überhaupt seine «Flachen Arbeiten» auslegen – insgesamt waren es um die 25 Stück, und sie waren nicht gerade klein. Es waren damals die grössten Ausstellungsräume in der Schweiz, man sprach darüber auch in der französischen Schweiz.

CvR: Das sieht man schön bei der grossen Ausstellung, die John M Armleder in deinen Räumen kuratierte [Projektion einer Ansicht der Ausstellung ECART (1993)]. Da kamen gleich mehrere Künstler aus der Westschweiz in deine Galerie, mit denen du später auch weitergearbeitet hast.

SK: Das Foto zeigt John M Armleders Ausstellung «ECART» 1993. Kontakte zu den Künstlern aus der französischen Schweiz bestanden bereits seit den ersten Ausstellungen mit John M Armleder 1983, Olivier Mosset 1984 und Jean- Luc Manz 1989. In den 1980er-Jahren war die Kunstszene in Genf um einiges aktiver und internationaler als die in Zürich. Zum Beispiel in dem 1974 von Adelina von Fürstenberg gegründeten Centre d’Art Contemporain (CAC), das sie bis 1989 leitete. Bei ihren international ausgerichteten Ausstellungen und den darauffolgenden Partys traf man auch viele Zürcherinnen und Zürcher, die sich die Performances von John Cage, Laurie Anderson, Philip Glass u.a. nicht entgehen liessen. So war ich auch öfter in der Romandie, zu Atelierbesuchen oder um die Ausstellungen in Genf anzusehen. Auf dem Foto sind die Künstler und Künstlerinnen zu sehen, die am Tag nach der Eröffnung der «ECART»-Ausstellung nochmals in der Galerie zusammenfanden: Pierre-André Ferrand, Christian Floquet, Thom Merrick mit Freundin, Adrian Schiess, John M Armleder und Sylvie Fleury. Die Werke sind von Christian Marclay, Cady Noland, Gerwald Rockenschaub, Steven Parreno, Sylvie Fleury, John Tremblay, Olivier Mosset, Erik Oppenheim, Michael Scott, u.a. – Die «ECART»-Ausstellung war legendär. Zwei Jahre später folgte die tolle Ausstellung mit Sylvie Fleury und dem wunderbaren Titel «First Spaceship to Venus».

CvR: Und wieso gab es dann irgendwann 2004 die Entscheidung, nach Zürich zu gehen?

SK: Die Frage stand hin und wieder von Seiten der Künstlerinnen und Künstler im Raum. Es sprachen mich auch Zürcher Kollegen und Kolleginnen darauf an, ob ich mit meinem Programm nicht nach Zürich kommen möge. Damals dachte ich, das kommt, wenn meine Töchter älter sind. 2003 ergaben sich jedoch zwei Situationen, die mich dies früher als gedacht überdenken liessen. Einerseits rief mich die Zürcher Galeristin Marlene Frei an, dass die Räume an der Dienerstrasse frei würden: ob ich mir die Räume nicht einmal ansehen wolle. Andererseits wurde in diesem Jahr per Abstimmung der Erweiterungsbau des Kunstmuseums St.Gallen abgelehnt. Das, nachdem das Haus von 1970 bis 1987 über siebzehn Jahre wegen Baufälligkeit geschlossen blieb und auch nach der Renovation und Wiedereröffnung mit Mängeln zu kämpfen hatte und bedauerlicherweise noch immer hat. Dies überraschte mich dermassen, dass ich mich fragte: Was tue ich überhaupt noch in dieser Stadt? Ich beschloss, über die Bücher zu gehen. Nachdem ich mir die Galerieräume an der Dienerstrasse angesehen hatte, folgte der Entscheid. Im Dezember 2003 fand die letzte Ausstellung in den St.Galler Räumen an der Davidstrasse statt, im März 2004 eröffneten wir die neuen Räume in Zürich mit einer zweitägigen Ausstellungseröffnung von Kerim Seiler und Adrian Schiess.

CvR: Bevor wir nach Zürich gehen, lass uns noch kurz über deine letzten Galerieräume in St. Gallen an der Davidstrasse sprechen. [Projektion verschiedener Ausstellungsansichten]: auch ein ziemlich grosser Raum mit Umbauten von einem deiner Künstler, Gerwald Rockenschaub. Hier sieht man, wie er zwei Wände eingebaut hat, die schwarze links und die weisse.

SK: Ca. 200 Quadratmeter waren es an der Davidstrasse. Zum Umbau fragte ich Gerwald Rockenschaub, wie er den Raum unterteilen würde. Auf dem Foto ist sein Vorschlag zu sehen, den ich umsetzen liess. 1995 eröffneten wir die neuen Räume mit Gerwald Rockenschaubs neuen Einbauten. Durch die Einbauten von Gerwald Rockenschaub wurde der Raum zu etwas Speziellem für die anderen Künstler, weil sie wussten, dass Gerwald die Raumteiler geplant hat. Die Einbauten waren einerseits Raumteiler, aber immer auch ein Objekt ihres Kollegen – für die Künstler etwas sehr Wichtiges und Entscheidendes. In der 1996 folgenden Ausstellung «wanna play?» nahm Gerwald Rockenschaub das Format des einen Raumteilers wieder auf und zeigte ein Ensemble mit luftgefüllten, transparenten Wänden.

CvR: Es gibt dann an dem neuen Ort in der Dienerstrasse in Zürich, den sehen wir hier [Projektion verschiedener Ausstellungsansichten], auch eine Ausstellung von Gerwald Rockenschaub. Du gehst mit den Zürcher Räumen eigentlich wieder zu einem kleinen Format zurück, wie ganz am Anfang.

SK: Ja, vor allem damit, dass ich vom Ausstellungsformat des White Cube in der ersten Etage, wie in den beiden vorangegangenen Räumen, wieder abwich. Das war genau der Punkt, den ich wieder suchte, ein Schaufenster zur Strasse hin, und an der Dienerstrasse fand: das Innen nach Aussen und das Aussen nach Innen kippen. Die grossen Räume zuvor waren wunderbar. Die Arbeiten der Künstler für die neuen Räume wurden nicht kleiner, jedoch die Ausstellungen konzentrierter.

CvR: Ich habe noch ein paar Ausstellungsansichten mitgebracht. [Projektion verschiedener Ausstellungsansichten]

SK: Dieses Foto zeigt die Ausstellung des jungen belgischen Künstlers Louis De Cordier im Jahr 2005. Man sieht seine horizontale Skulptur «observer», die mit Licht durchleuchtet und beleuchtet war, und die während der Dauer der Ausstellung 24 Stunden, Tag und Nacht, zu sehen war.

CvR: Dieser wechselnde Blick von Innen nach Aussen und wieder nach Innen, von dem du zuvor sprachst, steht für mich auch für dein Selbstverständnis, dass zur Galeristentätigkeit auch ein sehr stark vermittelnder Aspekt gehört. Seit Mitte der 90er-Jahre hast Du ja auch Künstlergespräche gemacht, die transkribiert und publiziert wurden.

SK: Seit 1995 veranstaltete ich während der Ausstellungen öffentliche Gespräche zwischen den Künstlern und ausgewählten Kunstvermittlern. Ich unterhalte mich bis heute liebend gerne in der Sprache des Künstlers, sei es in Französisch, Italienisch oder Englisch. Dieser Austausch hilft mir im eigenen Verständnis und damit in der Vermittlung des Werkes, ich möchte ihn nicht missen. Auch die Künstlergespräche wurden in der jeweiligen Muttersprache der Künstler geführt und entsprechend in unserer Editionsreihe publiziert. Die Editionsreihe sollte die Arbeit der Kunstschaffenden fördern und vermitteln und ihnen dabei helfen, die theoretischen Konturen ihres Schaffens herauszuarbeiten.

CvR: Du hast auch Künstler gehabt, die dir die Vermittlung nicht unbedingt immer einfach gemacht haben. Du hattest bereits erwähnt, dass Thomas Hirschhorn auch von dir vertreten wurde und da gab es eine Phase in der Thomas Hirschhorn beschlossen hat, nicht mehr in der Schweiz auszustellen. Wie reagiert man da als Galeristin?

SK: Nun, man wünscht sich eine solche Situation nicht unbedingt. Als Thomas mich am Telefon darüber informierte, war meine erste Reaktion: «lass uns meine Galerie exterritorialisieren». Ab Thomas Hirschhorns Boykott, den er am 10. Dezember 2003 bekannt gab, konnte ich weder eine Einzelausstellung noch Arbeiten von ihm in der Galerie zeigen. Das betraf auch meine Teilnahmen an der Kunstmessen Art Basel. Ja, es war eine Einbusse, im Besonderen jedoch für Thomas Hirschhorn selbst. Um auf den ersten Gedanken zurück zu kommen: Exterritorial, also im Ausland, konnte ich Werke von Thomas Hirschhorn an Kunstmessen zeigen. Am 14. Dezember 2007 versandte Thomas Hirschhorn sein Statement «Ich werde wieder in der Schweiz ausstellen» und beendete damit seinen Boykott; und im Dezember 2008, fünf Jahre nach Thomas’ erstem Statement, zeigten wir mit den «Ur-Collagen» wieder seine erste Einzelausstellung in der Schweiz.

CvR: Für diejenigen, die den Hintergrund nicht kennen: Das war ein Ausstellungsboykott für die Zeit, in der Christoph Blocher in der Regierung war. Nach Blochers Abwahl gab Thomas Hirschhorn bekannt, dass er wieder in der Schweiz ausstellen würde. Es war also ein sehr politisches Statement. Thomas Hirschhorn hat dir auch noch weitere Ereignisse beschert. Es gab beispielsweise eine Art Skandal anlässlich seiner Ausstellung in Paris, und du hast für seine Arbeiten immer wieder sehr stark als Vermittlerin agieren müssen.

SK: Thomas Hirschhorns Ausstellung «Swiss-Swiss Democracy», die 2004 im Centre culturel suisse in Paris eröffnet wurde, erhitzte die Gemüter in der Schweiz sehr. Die Ausstellung wurde am 4. Dezember 2004 eröffnet und dauerte bis 30. Januar 2005. Die Ausstellungsdauer ist wichtig, weil Thomas Hirschhorns tägliche Präsenz von 11 bis 21 Uhr Teil der Ausstellung war. Thomas Hirschhorn stellte nicht nur seine Installation mit einer Überfülle von Material aus, sondern stand dem Publikum auch 500 Präsenzstunden lang für Fragen an die Demokratie zur Verfügung. Deshalb war er auch in Paris gebunden und konnte nicht weg. Das hatte zur Folge, dass ich ihn auf öffentlichen Podien oder auch mit eigenen Texten vertrat. Als ich am 6. Dezember von der Vernissage aus Paris retour kam, sah ich als erstes an einem Kiosk das Plakat für die aktuelle «Blick»-Ausgabe gelb leuchtend im Aushang; es war meine erste Bekanntschaft mit «fake news». Ich eilte sofort in die Galerie und rief Thomas an, dass wir ein Problem hätten. Danach schrieb ich eine Richtigstellung der Geschehnisse in Paris, die per Mail an den damaligen Bundesrat und Kulturminister Pascal Couchepin und an die Medien ging. Diese Richtigstellung schickte ich in der Folge persönlich an jeden Ständerat und jede Ständerätin, jeden Nationalrat und jede Nationalrätin, und jedes Mitglied des Bundesrats ... wir lernten viel dabei über Medien und die direkte Demokratie, Thomas in Paris und ich in Zürich. In meiner Publikation «33 Jahre Galerie Susanna Kulli – Ein Materialbuch» [zeigt auf Buch] widmeten wir dieser Sache 50 von 260 faksimilierten Zeitungsseiten. Die meisten dieser Medien erschienen in der Schweiz, international fand dieser Skandal kaum Beachtung. Das ganze Dossier über den Hirschhorn-Skandal ist inklusive der Originalzeitungen in der Schenkung der Künstlerarchive an die Zentralbibliothek Zürich enthalten, unter dem Schlagwort «Thomas Hirschhorn Swiss-Swiss-Democracy».

CvR: Vielleicht können wir noch ein bisschen über das Archiv sprechen. Jochen Hesse, Susanna hat ihr Archiv der Zentralbibliothek Zürich überlassen, was siehst du in dem Archiv? Wir haben Mediengeschichte da drin, wir haben Galeriegeschichte. Warum interessiert sich die Zentralbibliothek dafür? Was war für dich der Moment zu sagen, ich bemühe mich wirklich darum, dieses Archiv an die Zentralbibliothek zu bekommen?

Jochen Hesse: Es war für mich, als Ganzes, von grossem kulturellem Wert – auch wegen der 33 Jahre Arbeit, die darin stecken. Man sieht anhand von diesem Archiv sehr schön, was Galeriearbeit überhaupt ist! Das ist häufig unspektakuläre Arbeit; da geht es nicht nur um Vernissagen oder Apéros, sondern um die alltägliche Korrespondenz und das Sammeln von Presseunterlagen. Es geht um die ganzen Fotos von Ausstellungen, von Werken, und das hat mir sehr stark imponiert. Das ist eine wahnsinnige Leistung, die nicht nur sehr zeit-, sondern auch sehr kostenintensiv ist, und die einfach neben der Künstlerpromotion herlief. Sehr wichtig erscheint mir auch, dass wir hier neben dem Einsatz für die Künstler auch das Bewahrende haben, für unsere Zeit, aber auch für die Vergangenheit: Das Archiv zeigt einen sehr wichtigen Teil zeitgenössischer Kunstgeschichte auf, und das wollte ich einfach unbedingt erhalten. Es war mir deshalb eine sehr grosse Freude und ein riesiger Vertrauensbeweis, dass Susanna mir das Archiv anvertraut hat.

CvR: Ich habe nur Teile gesehen und kann sagen, das ist ein umfassendes, auffallend sorgfältig geführtes Archiv. Sehr genau beschriftet, sehr genau bearbeitet. Susanna, wir haben schon mal darüber gesprochen, was für dich das Archivieren ist. Warum hast du dem so viel Zeit eingeräumt und in welchen Momenten hast du archiviert?

SK: In der Erker-Galerie begegnete ich zum ersten Mal einem wunderbaren Handschriftenarchiv und wusste von daher, dass Handschriften gesammelt werden, eine Bedeutung haben. Etwas, das in meinem Archiv speziell ist, ist die Zeit der 1980er- und 1990er-Jahre. Wir korrespondierten damals viel und oft per Fax. Dem Faxpapier misstraute ich vom ersten Moment an, als ich dieses Papier in die Hände bekam. Es fühlte sich so unglaublich billig an, dass ich mich sofort dazu entschied, jedes Fax als Fotokopie abzulegen. Somit sind nebst den Briefen dieser Jahre auch die Fax-Korrespondenzen oder handschriftliche Projektbeschriebe zu geplanten Ausstellungen lückenlos aufgehoben und dokumentiert. Im Archivbestand befinden sich keine ausgebleichten Faxe. Die Faxnachrichten schrieben die Künstler meist von Hand. Somit ist das Handschriftenarchiv, das jetzt in der Zentralbibliothek ist, ziemlich umfassend. Es war in Momenten des Zweifels, dass ich zu archivieren begann. Bevor ich mich in Vergleich zu anderen setzte, mich zu sehr zu fragen begann, was machst du da überhaupt oder wenn ich gerade nicht weiter wusste, griff ich auf diese wirklich langweilige Arbeit zurück, d.h. ich schrieb Fotografien im Fotoarchiv an, archivierte die Presseartikel oder ich ging die ganze Adressenkartei durch. Das Anschreiben im Archiv ist etwas Langweiliges, Einfaches, ohne direkten ökonomischen Wert. Es hat mich jedoch immer wieder in neue Energien gelenkt. Das war eine Art Umlegung des Schalters zurück in die Aktivität. Später war dies Teil der Arbeit, die meine Assistenten oder Assistentinnen ebenso akribisch weiterführen mussten. Jedoch liess ich nie ganz die Hände davon.

CvR: Jochen, für dich kommt als Archivar noch einiges an Arbeit dazu. Ein grosser Fundus. Was sind die nächsten Schritte und welche Zukunft siehst du für das Archiv?

JH: Für uns ist es wirklich ein Glücksfall, ein Archiv zu erhalten, das so wunderbar aufgearbeitet und dokumentiert ist. In dem das ganze Wissen versammelt und z.B. festgehalten ist, welche Ausstellung, welcher Ort, welche Leute abgebildet sind, welche Künstler. Das ist ein ungemeiner Schatz, weil das Archiv ab sofort zugänglich sein kann und wir nicht noch Zeit investieren müssen, um das Archiv aufzuarbeiten. Das ist ein ganz entscheidender Punkt. Wir stellen das Archiv jetzt einerseits der Forschung zur Verfügung, und andererseits möchten wir eine Auswahl von diesen wunderbaren Abbildungen, Fotos, Digitalisaten, die Sie bereits gesehen haben, im Bibliothekskatalog veröffentlichen. Das heisst, wir möchten, dass dieses Archiv einsehbar ist. Die Leute sollen den ganzen Reichtum erkennen und merken können, wie wichtig es für die zeitgenössische Kunstgeschichte ist. Wir haben mit dem Hirschhorn-Skandal «Swiss-Swiss-Democracy» am Centre culturel suisse in Paris, 2004 z.B. einen der grössten Kunstskandale minutiös dokumentiert. Alleine das ist ein wunderbarer Fundus für die Forschung. Rein kunsthistorisch gesehen gibt es aber auch andere Punkte. Wir haben gerade bei Thomas Hirschhorn die Möglichkeit, Werkgenesen zu verfolgen. Beispielsweise bei dem Werk «Wirtschaftslandschaft Davos» oder auch bei dem Werk «Flughafen Welt / world airport», von den ersten Ideenskizzen vom Künstler selbst über die Ausstellungen, über das Archivieren des Werks bis hin zum Kauf durch ein entsprechendes Museum. Sichtbar wird aber auch die nationale Kunstgeschichte, oder sogar die internationale Kunstgeschichte, beispielsweise bei den wunderbaren Fotografien der Messebeteiligungen. Jetzt nicht nur Basel, du hast auch Madrid erwähnt oder bei Hirschhorn beispielsweise die Biennale-Beteiligung im Schweizer Pavillon mit der Arbeit «Crystal of Resistance», 2011, von der es wieder ganz grandiose Fotografien gibt. Historisch gesehen, wenn ich das vielleicht noch sagen darf, ist es auch sehr spannend zu sehen, gerade wenn man an das Buch denkt, dass Galeriegeschichte eben auch immer eine Stadtgeschichte ist. Ich finde das eine sehr gute Idee von dir, dass du die Ausstellungsrezensionen immer mit der ganzen Zeitungsseite archiviert hast. Das ist manchmal wirklich zum Schmunzeln, mit welchen Themen die Ausstellungsrezensionen kombiniert waren. Man wird sehr schnell in diese Zeit zurückversetzt, sieht das ganze Umfeld, auch politisch, das damals herrschte. Wenn man jetzt relativ schnell durch die Jahrzehnte geht, die da in diesem Buch und eben auch im Archiv versammelt sind, dann sieht man auch, wie die Medienlandschaft sich verändert hat. Am Anfang wurden Ausstellungen wirklich noch diskutiert, man hatte Platz und man hatte mehr Zeit. Dann wurde, gerade beim Feuilleton, gespart und Zeitungen zusammengelegt. Die Zeitung «Ostschweiz» wurde im Winter 1997 eingestellt. Das waren für dich sicher ganz markante Einschnitte. Man sieht auch, welche Zeitschriften jetzt nicht mehr existieren und wie sich die Besprechungen langsam in das Netz verlagern. Das ist auch eine interessante Mediengeschichte, die in diesem Archiv und eben auch im Buch nachvollziehbar ist.

CvR: Also Sie haben gerade gehört, was ein Galeriearchiv alles sein und leisten kann, vielen Dank, Jochen. Ich glaube, es ist ein guter Moment, um für Fragen zu öffnen, die sich während des Gesprächs ergeben haben.

Frage aus dem Publikum: Als du angefangen hast in St.Gallen, war es damals schon Usus, dass man einen Künstler zeigt und dann ist er gleich im Programm? Oder war das viel freier, dass die Künstler ihre Arbeiten mal in dieser und mal in jener Galerie gezeigt haben? Heute ist es ja so, eine Galerie zeigt einen Künstler einmal und das kann dann vielleicht ein Testlauf sein, um zu sehen, ob das funktioniert. Und wenn er zum zweiten Mal gezeigt wird, heisst es, dass er Teil des Programms ist. War das schon in den 70er-, 80er-Jahren so oder ist das etwas, was erst in den 90ern entstanden ist?

SK: Exklusiv-Verträge zwischen Galerie und Künstler waren mir seit Ende der 70er-Jahre vor allem aus den USA bekannt. Es waren jedoch bereits damals schon die grossen Galerien, die in Zürich ansässig waren und die so arbeiteten: Gimpel & Hanover Galerie, Galerie André Emmerich / Emmerich-Baumann, um zwei davon zu nennen; Programmgalerien arbeiteten anders. Selbst empfand ich nie den Wunsch, einen Künstler oder eine Künstlerin exklusiv zu vertreten. Die Zusammenarbeit mit Kollegen im Ausland, die Vermittlung des Werkes eines Künstlers oder einer Künstlerin, lag mir weit mehr am Herzen und schien mir auch zielführender. Daraus entstanden auch anhaltende Zusammenarbeiten zwischen Künstlern und Kollegen.

Frage aus dem Publikum: Und wie war das in der Schweiz? Wenn jemand, zum Beispiel, in Genf und St.Gallen oder Genf und Zürich war?

SK: Wir Galeristen und Galeristinnen stehen einerseits in Konkurrenz. Andererseits sind wir auch Kollegen und Kolleginnen, die die Arbeit der anderen respektieren. Wenn ein Kollege oder eine Kollegin Arbeiten von einem Künstler zeigen wollte, dann konnte er oder sie diese bei der Galerie oder dem Künstler für die Ausstellung anfragen.

Frage aus dem Publikum: Ich frage mich, ob es nicht analog zum Begriff des Künstler-Künstlers für Blinky Palermo auch so etwas gibt wie den Künstler-Galeristen oder die Künstler-Galeristin, die sich besonders um die Bedürfnisse der Künstler kümmert – auch jenseits von ökonomischen Interessen. Vielleicht konnte das Archiv so ein Dokument der Zeitgeschichte werden, weil es eben auch jenseits von ökonomischen Interessen Geschichten erzählt? Gibt es das vielleicht nicht mehr so und ist das vielleicht auch ein Grund, weshalb für ihre Galerie Schluss war letztes Jahr?

SK: Das ist eine sehr schöne Frage von ihnen, die die Künstler vermutlich eher beantworten könnten. Als Galeristin musste ich klar auch ökonomisch arbeiten. Die Künstlerarchive gehörten für mich aber von Anfang an auch zu meiner Arbeit als Galeristin. Ich denke, dass dies ein wichtiger Punkt ist: Die Künstler haben mir ihre Arbeiten anvertraut. So lag es für mich nahe, das Archiv sorgfältig zu führen. Später haben meine Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen diese Arbeit weiter gepflegt und die Provenienz der einzelnen Werke für künftige Werkverzeichnisse oder Monografien dokumentiert. Wir Galeristen sind auch angehalten, die Unterlagen über viele Jahre aufzubewahren. Wenn man von Künstlern liest und hört, zu deren Ausstellungen in den 1960er- und 70er-Jahren kein Material mehr vorhanden ist, ist das eine grosse Enttäuschung für sie. Ich fand immer, das sollte den Künstlern nicht geschehen, die mit mir zusammenarbeiten.

Daniel Baumann, Kunsthalle Zürich: Haben die Künstler das Material denn gewollt?

SK: Ich meine, wir sprachen nie darüber, weil es für mich selbstverständlich war. Von den grossformatigen Ektachromen der Ausstellungen oder von ihren Werken, erhielten die Künstler die Duplikate. Und wenn wir beispielsweise nach Abbildungen oder Material für einen Ausstellungskatalog oder eine Monografie in der Galerie angefragt wurden, stellten wir sie jederzeit zur Verfügung. So wussten es die Künstler und Künstlerinnen vermutlich doch. Man könnte vielleicht sagen, dass ich immer überzeugt davon war, dass die Künstler so gut sein werden, dass sich auch andere für ihr Werk interessieren könnten, Kunsthistoriker und Kunsthistorikerinnen sich ihrem Werk annehmen werden. Dies ist der erweiterte Sinn der Schenkung an die Zentralbibliothek Zürich, die das Material öffentlich und zukunftsgerichtet zugänglich macht.

JH: Also in diesem Zusammenhang möchte ich betonen, was du bei uns in der Zentralbibliothek mit deiner Schenkung ausgelöst hast. Du hast quasi unser Profil erweitert, dass wir jetzt auch Archive zur Kunstszene in Zürich haben. Es gibt ja keine Institutionen schweizweit, die Archive des Kunsthandels sammelt und deshalb ist es mir wichtig, dass die Zentralbibliothek ein bisschen dazu beitragen kann, dass diese Archive überleben und in diesem Zusammenhang warst du für uns sehr wichtig.

SK: Sehr gerne und Dankeschön.

CvR: Und auch herzlichen Dank Euch beiden Susanna und Jochen und ihnen allen für die Aufmerksamkeit.